Marc de Sarno

Freier Schriftsteller


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Begrab meine Liebe an der Biegung des Flusses

Sommer 1981

»Es wird Zeit für mich, zu gehen. Ich muss wieder nach Hause«, sagte Mica Böhm, schlang die Arme um ihre Beine und legte den Kopf auf die Knie. Ihr rechter Mundwinkel zuckte. Sie saß auf ihrer roten Wolldecke vor dem Lagerfeuer, das Tom Thorwell vor einer halben Stunde für sie angezündet hatte. Der Mann, den sie gerade mal ein paar Tage kannte und der ihr doch so vertraut war, aus Erzählungen anderer, die ihn besser kannten als sie. Die mit ihm gelebt und gearbeitet hatten.
In einer anderen Zeit. In einer anderen Welt, die wenig mit der Welt zu tun hatte, in der sie lebte. Sie war Polizistin, alleinstehend, hatte Kollegen, Freunde, Bekannte und eine kleine Wohnung. Sie hatte regelmäßige Arbeitszeiten, berufliche Ziele und bis diesen Sommer eine ziemlich genaue Vorstellung von ihrem Leben, ihrer Welt gehabt. Aber seine war eine andere.
Er war ein Vagabund ohne festen Wohnsitz, ohne Job und Familie. Seine Haut war tief gebräunt. Er trug verschlissene Jeans, halbhohe Westernboots, ein dunkelrotes Hemd und einen Dreitagebart, der ihn um einiges älter wirken ließ, als seine neunzehn Jahre. Kummer und ein entbehrungsreiches Leben hatten tiefe Falten in sein Gesicht gegraben. Seine Freundin war an Krebs gestorben. Er hatte eines Nachts ihre Urne ausgegraben und war mit einem Pferd von Salzburg, über die Schweiz nach Frankreich geritten, um ein Versprechen einzulösen und ihre Asche am Meer zu verstreuen.
Jetzt saß er ihr gegenüber. Unterhalb der Stadt Carolle, in der Normandie, wo sie an der Küste ihr Zelt aufgeschlagen und auf ihn gewartet hatte. Sie blickte in den Himmel und atmete den Duft nach Meer und Salz und den Gräsern und Blumen der Küste ein. Dann schaute sie in das Dunkel hinter ihm und versuchte zwischen den Sträuchern und Pinien eine Bewegung von seinem Pferd zu erkennen, das stets frei herumlief, aber sofort kam, wenn er nach ihm rief.
Schließlich sah sie Tom wieder an.
Sie war ihm bis hierher gefolgt, in den Westen Frankreichs, aber jetzt war ihr Urlaub vorbei.
Sie hatte jeden Urlaubstag, jeden Zeitausgleich und jede freie Stunde zusammengekratzt, um Tom zu finden. Aber ihr Guthaben war aufgebraucht. Sie musste nach Hause. Sich ihrem Job und ihrem Alltag stellen. Zurückkehren in ihre eigene Welt und ihn der seinen überlassen.
Wenn sie daran dachte und ihn ansah, spürte sie ein Gefühl der Leere in sich, als würde sie in einem Fahrstuhl stehen, der plötzlich nach unten sackte.
»Ja. Ich denke, es wird auch für mich Zeit, weiterzuziehen«, antwortete Tom mit ruhiger Stimme, und folgte ihrem Blick hoch zu den Sternen, die nach und nach den nächtlichen Himmel erhellten. Hinter ihm in der Dunkelheit scharrte das Pferd mit den Hufen im steinigen Boden und schüttelte den Kopf, um lästige Fliegen loszuwerden.
Vom Meer wehte der Wind herauf, die Luft war durchsetzt mit Salz, dem Rauch des Lagerfeuers und dem Geruch der Pinien hinter ihnen. Die Sonne, die bis vor kurzem noch eine Handbreit über dem Meer gestanden hatte, war inzwischen, einem glühenden Ball gleich, in den Wellen verschwunden und hatte einer Dunkelheit Platz gemacht, in der nur die Flammen ihres Feuers tanzten.
»Ich habe Jessica ans Meer gebracht. An diese Küste, die sie unbedingt sehen wollte. Jetzt ist sie hier und für immer mit ihr verbunden. Ich hoffe, sie findet hier ihren Frieden. Der Atlantik ist rau und wild, kein sanftes Wesen, aber das war auch Jessica nie. Sie war eine Rebellin, stark und wild, das dem Leben getrotzt hat, bis der Krebs sie besiegt hat. Die Urne nehme ich mit in die Camargue, um sie dort zu begraben. Irgendwo auf einem Stück Land, über das die weißen Pferde laufen. Das war ihr Wunsch.«
Sein Blick ging zu dem Felsen, neben den er die Urne von Jessica, seiner großen Liebe, gestellt hatte und dann zurück zu Mica. Sie trug eine fransige Levi’s, eine rosa Bluse und ihre Sportschuhe, mit denen sie auf den sandigen Wegen zum Meer hinunter keinen richtigen Halt fand.
»Komm mit mir«, sagte sie leise, als ob sie fürchtete, die Stimmung des Abends zu stören und schaute Tom an, der den Kopf gesenkt hatte und in die Flammen des Lagerfeuers starrte.
»Wohin?«
»Nach Hause.«
»Ich bin zu Hause.«
»Nein. Ich meine in ein richtiges zu Hause.«
»Das ist mein zu Hause«, erwiderte er und ließ seinen Blick über den dunklen, mit kniehohem, hartem Gras und Büschen bewachsenen Hang wandern, auf dem ihr Zelt stand und er daneben sein Lager aufgeschlagen hatte, das nur aus ein paar Decken und einem alten Schlafsack bestand. Über die schwarzen Klippen weiter unten, gegen die der Atlantik mit weiß schäumenden Wellen lief und das Meer, das sich in der Dunkelheit vor ihnen ausbreitete.
Unendlich weit.
»Ein anderes habe ich nicht.«
»Ich könnte dir eines geben«, sagte Mica. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie reckte das Kinn nach vor. Ihre Augen suchten die seinen, während ihre Finger sich in sich selbst verflochten. Ihr einziger Halt an diesem Abend. Diese Reise hatte etwas in ihr ausgelöst. Eine Veränderung, deren Natur sie nicht benennen konnte. Der Wind spielte in ihren aschblonden Haaren, die von der Sonne in den letzten Tagen gebleicht waren, und ließ sie blinzeln.
Sie wusste nicht, warum sie ihn fragte. Warum sie ihn in ihre Welt holen wollte. War es Mitleid mit dem Jungen, obwohl er nicht verloren wirkte? Tom schien mehr in sich zu ruhen, als sie selbst. Er hatte seinen Schmerz tief in seinem Inneren vergraben und genau dort würde er bleiben, da war sie sich sicher.
War es eine Art Verbundenheit, die sie für ihn fühlte? Einfach das Gefühl, ihn zu kennen, weil sie schon so lange auf seiner Spur war? Oder war der Augenblick nur der Stimmung geschuldet? Dem Lagerfeuer, dem Rauschen des Meeres, dem Sternenhimmel und ihrer Einsamkeit, wenn sie an zu Hause dachte? Er hatte sie noch nicht mal geküsst, hatte ihr nicht gesagt, dass er sie mochte, dass er sein Herz an sie verloren hatte, so wie sie das ihre an ihn.
Was wartete zu Hause schon auf sie, außer dem Job und dem Alltag, dem sie für eine kleine Weile entflohen war?
»Du kennst mich doch nicht. Du weißt nur meinen Namen«, unterbrach Tom ihre Gedanken und warf ihr über das Feuer hinweg einen langen Blick zu. »Ich bin ein Vagabund. Meine einzigen Freunde sind ein Pferd und ein Schäferhund. Alles, was ich besitze, habe ich bei mir. Alles was ich vom Leben will, ist, meine Reise in die Camargue zu einem guten Ende zu bringen. Was danach kommt, liegt in den Händen der Götter.«
Unwillkürlich sah Mica sich wieder um, nach dem Pferd, das sie ab und an hören konnte und dem schwarzen Hund, der wie ein unheimlicher Schatten irgendwo zwischen den Felsen saß und jeden Schritt von Tom überwachte.
»Ich kenne dich besser, als du ahnst, und könnte dir mehr geben, als du denkst«, hörte sie sich sagen, bevor sie ihre Worte überdenken konnte, kniff die Lippen zusammen und senkte den Blick, verschämt, weil sie diese Sehnsucht in ihrem Herzen spürte, wenn man sich zu einem anderen Menschen hingezogen fühlt und weiß, dass dieses Gefühl nicht erwidert wird.
»Du könntest bei mir wohnen, einen Job suchen und wir verlieben uns ineinander, was hältst du davon«, sprach sie schnell weiter, und schickte ein leises, unsicheres Lachen hinterher, obwohl ihr nicht zum Lachen war. Sie senkte den Kopf, damit er ihr nicht in die Augen sehen konnte.
»Es wäre leicht, mich in dich zu verlieben«, hörte sie ihn sagen. »Du bist hübsch, hast ein Lachen, das mitreißt und schöne Augen, die einem Mann wie mich verzaubern.« Seine Stimme wurde eine Nuance dunkler. »Aber da ist noch immer Jessica, die zwischen uns steht. Ich muss erst darüber hinwegkommen. Es wäre dir gegenüber nicht fair. Ich brauche einfach noch Zeit. Zeit, um loszulassen, Zeit, um mich selbst zu finden.«
»Du reitest also weiter und ich fahre nach Hause. Du ziehst mit deinem Pferd und mit dem Hund durchs Land und ich schreibe Strafzettel und ärgere mich mit Typen herum, die kiffen, klauen, Autos knacken oder ihre Frauen verprügeln.«
»Es tut mir leid, Mica. Du hast so viel auf dich genommen, um Alice zuvorzukommen, um uns zu beschützen. Du bist so weit gereist, um mich kennenzulernen. Aber ich bin noch nicht so weit, für ein anderes zu Hause. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen und ich bin dir dankbar für alles, was du für uns, für mich getan hast, auch wenn das platt klingt. Aber ich habe das alles hinter mir gelassen, weil ich noch viel zu viel Platz um mich herum brauche. Weil mein Herz zu schwer ist, um es in die Hand einer anderen Frau zu legen. Weil ich Jessica in jedem Augenblick, jedem Atemzug und jedem Herzschlag vermisse. Kannst du das verstehen?« Er senkte den Kopf, griff nach einem Stock und stocherte in einer hilflosen Geste im Feuer herum, das für einen Moment hell aufloderte und weißen Rauch und orange-rote Funken zum Meer hinunter schickte.
»Irgendwann wird es leichter werden, irgendwann wird der Schmerz weniger und ich den Göttern verzeihen können, dass sie mir meine Liebe genommen haben. Ich bin mir sicher, dass es so kommt, ich bin mir sicher, dass ich irgendwann wieder lieben kann. Eines Tages, wenn sehr viel mehr Wasser den großen Fluss hinunter geflossen ist.«
»Vielleicht ist es dann aber für mich zu spät«, sagte Mica leise, mit einem Kratzen im Hals. Ihre Stimme kam ihr seltsam verloren vor. So verloren, wie sie sich fühlte, weil sie selbst nicht wusste, warum sie ihn nicht gehen lassen wollte.
Warum sie ihn festhalten und beschützen wollte. Vor sich selbst und den Gefahren, die auf seinem weiteren Weg warteten, und sei es nur die Gefahr, ein weiteres Mal in seinen Gefühlen verletzt zu werden.
»Das wird uns die Zeit zeigen. Darauf muss ich es ankommen lassen.« Tom hob den Kopf und sah sie an. In seinen Augen tanzten die Flammen, doch dahinter schimmerte ein Schmerz, der Mica betroffen den Kopf abwenden ließ.
Sie lauschte auf die brechenden Wellen, die weiß schäumend im Mondlicht gegen die Felsen donnerten und wäre doch am liebsten zu ihm gegangen, um ihn in die Arme zu nehmen, ihn an sich zu drücken, seinen Herzschlag zu spüren und ihm die Liebe zu geben, die er so sehr zu vermissen schien.
Sie verwünschte ihren Job, ihr altes Leben, ihr Pflichtbewusstsein, nach Hause zurückkehren zu müssen und fragte sich zum wiederholten Male, wie es wäre, mit ihm zu gehen. Durchs Land zu ziehen. Einfach alles hinter sich zu lassen, wie Jessica und er es getan hatten. Keine Fragen nach dem Morgen, nur dem Jetzt verpflichtet und wusste im gleichen Augenblick, dass sie ihren Gefühlen nicht folgen konnte, dass es bei ihrem Wunsch bleiben würde. Eine Zeile aus dem Song ›Me and Bobby McGee‹ von Janis Joplin ging ihr durch den Kopf.
»Freedom’s just another Word for nothin left to lose« Sie konnte nicht einmal reiten, hatte kein Pferd, keine Ausrüstung und dieser Tage das erste Mal in einem Zelt übernachtet. Eine fremde Welt für sie, und doch konnte sie sich irgendwo tief in ihrem Herzen vorstellen, sich irgendwann darin zu Hause zu fühlen.
Irgendwann. Irgendwie.
Was hätte sie dafür gegeben, noch eine Weile zu bleiben, und einen langen Moment hoffte sie, dass er ihr anbot, mit ihm zu kommen und wusste doch sofort, dass er das nicht tun würde. Auch nicht, wenn sie ihn darum bat.
»Wirst du bei mir anklopfen, wenn du wieder in der Stadt bist?«, fragte sie stattdessen, und schaute auf eine Fledermaus, die lautlos vor ihr im Wind kreuz und quer durch die Luft nach Insekten jagte. Sie hörte, wie das Wasser drüben bei der Quelle über die Steine plätscherte, das Scharren von kleinen Hufen der Tiere, die jetzt, da der Tag zur Neige ging, über den Hang zur Tränke kamen. Das flackernde Licht des Lagerfeuers lag auf ihrem Gesicht.
»Weißt du denn, wo du mich finden wirst?«
Tom sah sie so lange an, bis sie seinen Blick erwiderte.
»Du bist eine Polizistin. Wenn es unser Schicksal ist, werde ich dich finden.«