Marc de Sarno

Freier Schriftsteller


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Im Schatten der Kamelien

Sommer 1995

Die Sonne neigte sich allmählich dem westlichen Horizont zu. Hoch oben im Himmel, gefangen in den Strahlen des ersten Abendrotes, schwebte ein Bussard ohne Flügelschlag durch die Luft.
Ella Chiara Harper, zwölf Jahre jung, wobei sie sich zur Zeit nicht entscheiden konnte, welchen ihre beiden Vornamen sie lieber mochte, fuhr mit ihrem Fahrrad, das sie in diesem Frühjahr bekommen hatte, hinaus zum Güterbahnhof, den Blick in den Himmel gerichtet. Zwei Vornamen waren seit jeher Tradition in der Familie ihrer Mutter und diese hatte die Tradition bei ihren Töchtern durchgesetzt und weitergeführt. Den ersten Namen hatte sie ausgesucht, der Zweite oblag der Laune ihres Vaters. Sie war ein sehr hübsches Mädchen, schlank, mit einem von der Sonne des Sommers zart gebräuntem, leicht sommersprossigen Teint, honigblonden Haaren, die ihr bis über die Schultern fielen, und einem süßem Lächeln. Aber es waren ihre Augen, weit auseinanderliegend und schimmernd, wie gegen das Licht gehaltenes Guinness, das dunkle irische Bier, das ihr Vater so gerne trank, schön und geheimnisvoll, die sie auf Anhieb sympathisch machten. Sie trug eine enge Jeans, die eine Handbreit über ihren Waden abgeschnitten war, sodass sie die Knie bedeckte, und eine sonnengelbe Bluse.
Neben ihr lief ihr Freund, Lucas Frank, der kein Fahrrad besaß und auch in nächster Zeit keines haben würde. Seine Eltern, die eigentlich seine Pflegeeltern waren, gaben ihr Geld lieber für Zigaretten, Alkohol und andere Vergnügungen aus, als so unnötige Dinge, wie ein Fahrrad für einen dreizehnjährigen Jungen, der noch dazu nicht ihr eigener war. Sein kurz geschnittenes Haar war hanfblond. Er war mit seinen einsfünfundsechzig, zehn Zentimeter größer als Ella und hatte graue Augen. Ein drahtiger Typ, höflich, mit einem einnehmenden Lächeln, dabei aber so kräftig, dass er letzten Monat im Schulhof einen älteren und größeren Jungen im Kampf hoch gehoben und auf die Erde geworfen und sich damit den Respekt der anderen Jungen erkämpft hatte. Er lief barfuß, seine Jeans war grau und verblichen, sein Shirt zu klein, es spannte über der Brust und am Rücken.
»Siehst du den Vogel?« Ella hielt ihre linke Hand hoch und zog unbeabsichtigt das Fahrrad nach rechts, aber Lucas wich geschickt einen Schritt zur Seite und warf im Laufen einen Blick nach oben.
»Ein Bussard, ja. Er ist auf der Jagd. Fliegt so hoch dort droben und kann trotzdem seine Beute hier unten erkennen.« Seine Augen funkelten, und er kniff sie schalkhaft zusammen. »Ich gäbe was dafür, könnte ich fliegen, wie er.« Dann hob er die Arme, streckte sie nach beiden Seiten aus und lief in einer wellenförmigen Linie voraus, als würde er das Flugmuster des Bussards imitieren.
Ella lächelte und schob sich die Haare aus den Augen, die ihr der Wind über die Stirn geweht hatte. Sie wusste, wie exzentrisch ihr Freund auf andere Menschen wirkte und nicht zuletzt auch auf sie selbst, aber sie mochte ihn trotzdem. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Er kümmerte sich nie darum, was andere Leute über ihn dachten und folgte immer seinen Instinkten und Launen, auch wenn er sich damit Ärger einhandelte. Was aus ihrer Sicht oft genug vorkam.
Sie waren unterwegs zu ihrem Lieblingsplatz hinter dem Güterbahnhof, einer verschwiegenen, baumbestandenen Oase, mit einem schmalen Bach, der flüsternd zwischen den Bäumen verlief. Lucas hatte den Platz vor einiger Zeit auf seinen einsamen, trostlosen Streifzügen entdeckt, die er machte, wenn er allein sein wollte. Er lag vor den sattgrünen Hügeln nördlich der Stadt. Die asphaltierte Straße endete an einem riesigen Vorplatz, den sie überquerten und einem schmalen, unbefestigten Weg durch grünes Dickicht folgten, das sie ein paar Meter nach dem Eingang breit genug zurückgeschnitten hatten, um leichter durchzukommen. Lucas ließ Ella vorausfahren und holte sie erst wieder kurz vor der Lichtung des Wäldchens ein.
Mückenschwärme tanzten über den Sträuchern am Ufer des Baches. Irgendwo weit weg, gerade noch zu vernehmen, kläffte ein Hund. Hier draußen verirrte sich kaum jemals ein Mensch her, denn nach dem Bahnhof war Schluss. Dann kamen nur noch endlose Wiesen, in denen sich das Gras wiegte, und Felder, die darauf warteten, am Ende des Sommers abgeerntet zu werden. Alles Leben der Stadt spielte sich südlich davon ab.
»Komm, lass uns zum Bach setzen und die Füße ins Wasser stecken«, sagte Ella, stellte ihr Rad ab und schlüpfte aus den Sandalen. Im Sommer war er nicht mehr als ein träges Rinnsal, über dem sich die Libellen paarten. Aber jetzt, nach ein paar Tagen Regen, war das Wasser knöcheltief. Sie lief voraus und watete ans andere Ufer. Lucas folgte ihr. Kühl und weich strömte das Wasser um ihre Füße. Die Steine unter ihren Sohlen fühlten sich rund und glatt an. Sie setzte sich auf einen verwitterten Baumstamm und ließ ihre Füße knapp über dem Wasser baumeln.
Lucas setzte sich dicht neben sie und schaute in den Himmel. Der Bussard war verschwunden. Er wandte sich ihr zu, über sein Gesicht huschte ein verschmitztes Grinsen.
»Ich wäre auch gerne ein Bussard. Dann könnte ich fliegen wohin der Wind mich treibt. Ich wäre frei und könnte machen, was ich will. Ich müsste nie mehr zur Schule gehen und hätte jeden Tag Ferien.«
Ella lachte. »Dann musst du aber auch Mäuse essen, denn Bussarde ernähren sich in der Hauptsache von Mäusen.« Sie schüttelte sich vor Lachen, als sie sein verdutztes Gesicht sah. Dann wurde sie plötzlich ernst. Ihre Finger malten kleine Kreise auf ihren Knien.
»Wir fahren Anfang August, also nächste Woche, mit dem Campingbus nach Italien. Ich weiß es schon länger und wollte es dir auch sagen, aber ich wusste nicht wie.« Ihr Mundwinkel zuckte. Sie schaute ihm in die Augen und konnte den aufblitzenden Schmerz und die Enttäuschung darin sehen.
»Ist schon okay«, sagte Lucas und wandte sich ab. »Wenn ich erwachsen bin, fahre ich auch nach Italien.« Er strich mit den Händen über die Oberschenkel und zog seine Füße aus dem Wasser, stellte sie auf die rund geschliffenen Kieselsteine am Ufer. Der untere Rand seiner Jeans war bis zu den Knien nass. Aber es schien ihn nicht zu stören.
»Erzähl mir einfach später davon. Das ist dann, als ob ich mitgefahren wäre.«
»Wir schlafen im Bus, weißt du? Stefanie und ich im Hochbett oben und meine Eltern unten«, sagte Ella, und schaute in das glitzernde Wasser. Ein paar kleine Fische flitzten stromaufwärts und waren verschwunden, bevor sie ihren Freund darauf aufmerksam machen konnte. Er schaute schon wieder in den Himmel. Vermutlich auf der Suche nach dem Bussard. Seine Augen strahlten, als er den Blick auf sie richtete.
»Darf ich ihn ansehen, den Bus? Ich habe noch nie einen Campingbus von innen gesehen. Ist das, wie in einem Zelt? Kann man da drin tatsächlich schlafen?«
»Ich weiß nicht. Mama wird das nicht erlauben. Du weißt, wie sie über dich denkt. Ich dürfte nicht einmal hier sein. Also mit dir. Bei Papa bin ich mir nicht sicher.«
»Mhm, alles klar.« Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit. »Ich hab’s mir eigentlich schon gedacht.« Er bückte sich um einen Stein und warf ihn in einer flachen Kurve über den Bach.
»Aber ja«, meinte Ella, und nahm seine Hand. »Es ist besser als ein Zelt. Mehr so, wie in einer winzigen Wohnung mit nur einem Zimmer, oder zwei, weil wir oben schlafen, meine Schwester und ich. Du kannst ihn dir ansehen. Heute Nacht. Komm nach Mitternacht herüber und wirf mir Steine ans Fenster. Ich weiß, wo Papa den Schlüssel für den Wagen liegen hat. Wir müssen bloß aufpassen, dass wir niemand aufwecken, sonst bekomme ich echt mächtigen Ärger. Ich warte auf dich.«
Die Abendsonne strahlte auf die Hügel hinter der Stadt. Das Wasser des Baches hatte sich im Licht der Dämmerung rot gefärbt. Hoch oben am Himmel zog der Bussard noch immer seine Kreise, als sich die Kinder auf den Heimweg machten, unter den Bäumen hindurch und das Wäldchen hinter sich ließen. Grillen erfüllten die Luft mit ihrem Gezirpe, während Glühwürmchen wie winzige Fackeln durch die Dämmerung schwirrten.

Weit nach Mitternacht, Lucas war bei offenem Fenster eingenickt und irgendwann vom Schrei einer Eule erwacht, schlich er sich aus der Wohnung und lief zu Ellas Haus. Die Fenster waren dunkel. Nur eine Lampe über der Eingangstür brannte.
Er warf drei kleine Kieselsteine an ihr Fenster. Der Mond war hinter Wolken verborgen, aber das Licht der Straßenlaterne erhellte den Streifen Wiese vor ihrem Fenster. Gerade genug, um ein mögliches Hindernis zu erkennen. Doch im Zimmer regte sich nichts. Er konnte nur seinen eigenen wild klopfenden Herzschlag hören. Verstohlen blickte er sich um, aber an den anderen Fenstern rührte sich nichts. Nach einem schnellen Blick auf beide Seiten, warf er drei weitere Steinchen ans Fenster und wartete. Als sich nach einer Weile noch immer nichts regte, warf er gerade seine letzten drei Steine, als sich das Fenster öffnete. Ella erstarrte.
»Hey, lass das«, rief sie flüsternd, und schüttelte sich die Steine aus dem Haar. »Ich musste mich anziehen, oder sollte ich nackt herauskommen.«
»Du schläfst nackt in deinem Bett?»
»Idiot. Mit nackt meinte ich im Schlafanzug«, kicherte Ella, und setzte sich auf das Fensterbrett. »Außerdem musste ich auch noch die Schlüssel holen.« Sie ließ ihre Beine hängen, lauschte einen Moment in die Nacht und sprang in die Wiese, die feucht war vom Tau. Grinsend sog sie die kühle Nachtluft ein und legte Lucas eine Hand auf den Arm. Aus einem der hinteren Nachbarhäuser drangen Geräusche von klapperndem Geschirr nach vorn. Dann war es wieder still.
Die Büsche am Zaun zu Nachbars Garten bogen sich leise im Wind und das Licht des Vollmondes, der hinter den Wolken hervor gekommen war, warf ihre Schatten auf den weißen Kiesweg, der vom Haus wegführte. Sie schlichen auf dem Rasen daneben zur Garage, um keine Geräusche zu machen. Der Bus stand davor. Eine Straßenlaterne warf etwas Licht und unscharfe Schatten in sein Inneres. Ella steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Beifahrertür. Erschrocken blickte sie auf, als die Innenbeleuchtung anging. Aber Lucas schüttelte den Kopf.
»Spring rein«, flüsterte er, und sah sich nach allen Seiten um. Er schubste sie in den Wagen, kletterte nach und zog vorsichtig die Tür hinter sich zu. Mit klopfenden Herzen verharrten sie, geduckt, spähten hinaus und grinsten sich an.
»Komm!«, wisperte Ella und zog Lucas in den Wohnbereich des Busses. Er holte eine Taschenlampe, auf die er eine Folie zum Abdunkeln geklebt hatte, aus der Hosentasche und richtete sie zur Decke. Ein Lichtstrahl schwenkte über sie, dann leuchtete das gedämpfte Licht auf das mit Stoff ausgekleidete Dach. Sie kletterten über die Leiter hinauf, lagen mit angewinkelten Beinen im Bett und schauten aus den seitlichen Fenster in die Nacht. Verschwommen schimmerten die Umrisse der Sträucher neben ihnen im Mondlicht.
»Es muss toll sein, hier oben zu schlafen«, sagte Lucas, und tastete mit den Augen jeden Zentimeter des oberen Bereiches ab.
»Na, was denkst du denn?«, erwiderte Ella, und grinste.
»Irgendwann werde ich auch so einen Bus haben.«
Sie schauten in jeden Kasten, jede Schublade, untersuchten die Spüle, den Herd, hoben das untere Bett hoch und setzten sich zu guter Letzt nach vorne.
»Es kann losgehen«, meinte Lucas mit tief verstellter Stimme, und legte die Hände aufs Lenkrad. »Auf nach Italien. Morgen früh liegen wir am Strand. Ich kann schon das Meer riechen und freue mich aufs Schwimmen.«
Lachend knuffte Ella ihn in die Seite und sie kletterten wieder ins Hochdach.
»Man kann keine Sterne sehen, hier drin«, sagte Lucas leise und tastete nach Ellas Hand.
»Nein. Dazu müssten wir draußen schlafen.«
»Würdest du mit mir auch in einem Zelt unter den Sternen schlafen?«
Ella drehte sich zu ihm herum und sah ihn an, zerzaust und geheimnisvoll, ihre Augen groß und dunkel wie die Nacht.
»Ja«, sagte sie, und küsste ihn auf den Mund. Das Gefühl ihrer Lippen, warm und weich auf den Seinen, fuhr elektrisierend durch seinen ganzen Körper. Er holte tief Luft, als tauchte er aus tiefem Wasser auf. Ellas Wimpern flatterten, als sie ihm fest in die Augen sah. Dann lächelte sie ihn an. »Wir müssen wieder rein.«
»Ja, natürlich«, sagte Lucas mit einem albernen Lächeln. Sie kletterten aus dem Wagen, sperrten ab und liefen zu Ellas Fenster zurück.
»Mach’s gut« flüsterte Lucas immer noch lächelnd, und half ihr hoch und ins Fenster zu klettern.
»Du auch«, erwiderte Ella, und wandte sich rasch ab, damit er nicht mitbekam, dass sie genauso albern lächelte. Sie konnte einfach nicht aufhören, kroch unter die Decke und lächelte immer weiter, bis sie der Schlaf übermannte.
Drei Tage später brach die Familie auf nach Italien.

»Der Streuner steht dort hinter der Hecke und denkt, ich sehe ihn nicht. Was will er da?« Frau Harper stellte eine Klappbox in den Bus, warf einen Blick über ihre Schulter und lachte kurz auf.
»Ich weiß es nicht. Ich hab meinen Pulli vergessen, bin gleich wieder da.« Ella sauste zurück ins Haus und bei der Hintertür wieder hinaus.
»Wozu brauchst du im Sommer einen Pulli?«, rief ihr Frau Harper nach, und schüttelte den Kopf. Dann drehte sie sich um.
»Ich weiß, dass du hinter der Hecke stehst und uns beobachtest. Lass die Finger von meinen Mädchen und verschwinde nach Hause. Sie haben etwas Besseres verdient als dich. Oder soll ich meinen Mann holen, damit er dir Beine macht.« Sie schlug die Autotür zu und lehnte sich dagegen. Dann lachte sie wieder. Sie war eine engagierte Frau mit stechendem Blick, von vielen Stunden auf dem Tennisplatz sonnengebräunt, die es immer eilig zu haben schien.
Im direkten Sonnenlicht sah er, dass ihr faltenfreies, attraktives Aussehen großenteils auf die Magie von Make-up zurückzuführen war. Die Frau passte perfekt zu ihrer noblen Stimme. Sie trug eine hellblaue Bluse, einen dunkelblauen Rock und trotz der Hitze eine Strumpfhose. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie nach hinten gebunden. Aber ihr Gelächter war Lucas zuwider.
Besonders das schnaufende Keuchen Frau Harpers, das ihn stark an das Lachen einer Erzieherin aus dem Waisenhaus erinnerte. Die Erinnerung an das Lachen dieser Frau machte ihn nur noch nervöser. Er hatte Kopfschmerzen und der Rücken tat ihm weh, vor allem dort, wo ihn heute früh die Gürtelschnalle seines Pflegevaters getroffen hatte. Ein halbes Dutzend Schläge, weil er in der Küche über den kleinen Hund, der ihm zwischen die Beine gelaufen war, gestolpert war und Kakao verschüttet hatte. Er drehte sich um, steckte die Hände tief in die Hosentaschen und gab sich im Weggehen den Anschein, tief in Gedanken versunken zu sein. Doch sobald er außer Sichtweite war, verschwand er in die nächste Gasse, lief sie bis zum Ende des Weges entlang, bog ab und blieb an der Ecke zur breiteren Straße hinter dem Haus der Harpers stehen. Eine mannshohe, sorgfältig gestutzte Zypressenhecke versperrte die Sicht auf den Garten. Er zwängte sich zwischen die Bäume durch und wartete mit angehaltenem Atem auf das Knirschen von Schritten auf dem Kiesweg zur hinteren Gartentür.
»Sie hat dich gesehen«, kicherte Ella, und drückte sich neben ihn.
»Ist mir egal«, sagte Lucas und fummelte aus seiner Hosentasche einen kupferfarbenen Ring heraus.
»Ich wollte sicher gehen, dass du mich bemerkst und nach hinten kommst.« Er grinste und hielt ihr den Ring vor die Nase. »Für dich. Hab ich selbst gemacht. Damit du mich nicht vergisst.«
Behutsam nahm Ella den Ring entgegen und strahlte ihn an. »Wie sollte ich dich jemals vergessen.« Sie streifte den Ring über den Finger, er war ein wenig zu groß, also streifte sie ihn über den Mittelfinger. Dort passte er.
»Danke«, sagte sie, und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Dann drehte sie sich um und lief zurück zum Bus, wo ihre Mutter ungeduldig auf sie wartete. Lucas konnte sie bis hierher schimpfen hören.
Er rannte die Gasse hinunter, bog zwei Mal ab und wartete an der Hauptstraße auf den Wagen, der zehn Minuten später aus einer der Gassen vor ihm kam. Hoffnungsvoll reckte er den Hals und winkte, aber niemand winkte zurück. Lucas starrte in das dunkle Fenster des Hecks, das immer kleiner wurde, bis der Bus schließlich nach rechts abbog und verschwand.
Als er drei Tage später mit gesenktem Kopf hinaus zum Güterbahnhof und in ihr Wäldchen ging, um allein zu sein, schienen seine Bewegungen hölzern und entkoppelt von seinen Gedanken. Mit spitzen Fingern fischte er eine kleine Schachtel mit Samenkapseln aus seiner Jeans und warf einen enttäuschten Blick darauf. Eigentlich wollte er Ella bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub damit überraschen, damit sie die Samen im Garten unter ihrem Fenster aussetzte. Sie liebte die Blüten dieses Strauchs, von dem er nicht wusste, wie er hieß, nur dass er Rosen ähnelte. Aber dafür war es nun zu spät.
In einer plötzlichen Anwandlung von Zorn holte er weit aus und warf die Schachtel in den Wald. Aber gleichzeitig lief er los, fiel auf die Knie und krabbelte unter einen Brombeerstrauch voller Dornen, um sie dort wieder herauszuholen. Vorsichtig öffnete er sie, nahm die Kapseln in seine zerkratzte Hand und sah sich nach einem geeigneten Platz um. Schließlich entschied er sich für den verwitterten Baumstamm.
Er vergrub die Samen in einem kleinen Kreis, legte sich in die Wiese neben dem Bach, schaute in den Himmel, der leer war, und lauschte dem Wispern des Windes im wogenden Gras.
Als die Harpers von ihrem Urlaub aus Italien zurückkamen, war Lucas Frank aus der Stadt verschwunden.